Guildo Horn über den ESC: „nicht mehr mein Wettbewerb“

„Endlich normale Menschen!“ – das haben Sie gedacht, als Sie mit 21 Jahren Ihr soziales Jahr einer Lebenshilfe-Werkstätte für Behinderte in Trier begannen. Was machte sie zu normalen Menschen?
Aufgrund ihres geringeren Intellekts können geistig Behinderte sich oftmals nicht selbst reflektieren. Das hat Nach- aber wie ich finde ebenfalls Vorteile. Wer sich nicht ständig hinterfragen muss, zeigt sich einfach, wie er ist. Das finde ich im Umgang miteinander extrem angenehm. In unserer modernen Gesellschaft versucht der „normale“ Mensch ja permanent, sich besser darzustellen, als er eigentlich ist. Wir reflektieren uns dabei viel zu sehr und vergleichen uns mit den Anderen: Sitzt mein Haar richtig? Komme ich gut an? Verkaufe ich mich gut genug? Es ist so erfrischend, auf Leute zu treffen, die einfach so sind, wie sie sind. Ich bin damals aus einer gescheiterten Beziehung in dieses soziale Jahr gestolpert – und es war Liebe pur.
Sie sagen, ihre Freunde dort hätten Sie zu dem „Guildo“ gemacht, der sie heute sind. Wie ging das vonstatten?
Ich war Anfang zwanzig und hatte für mich beschlossen, dass ich Studiomusiker werden wollte – nach US-Vorbild, also handwerklich sauber und ganz exakt gespielt. Und dann triffst du plötzlich auf geistig behinderte Menschen, mit denen das ganz anders läuft. Und du merkst: Die haben viel mehr Spaß beim Musikmachen als ich! Die gehen aus sich raus und lassen musikalisch die Bux runter! Und ich konnte das damals noch nicht. Wenn ich mit meiner Band auf der Bühne stand, war ich früher ziemlich verklemmt. Das war wie eine Häutung – ich bin quasi gezwiebelt worden.

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Quelle: Handout
Es fühlte sich wie ein Geschenk an?
Ja! Inklusion ist ja ein Tauschgeschäft. Es ist nicht so, dass die Einen nur geben und die Anderen nur nehmen. Ich war damals 21 und habe mit meinen zwei besten Freunden viel und exzessiv gefeiert. Wir waren ein Trio infernale und haben uns ziemlich weggepustet. Und wenn ich dann morgens total fertig in die Werkstätte kam und mich Kerstin, eine betreute Mitarbeiterin, mütterlich in ihre Arme nahm, mich emotional versorgte, mir Zigaretten drehte und Brote schmierte, dann ging es mir wieder gut.
Wie groß sind die Schnittmengen zwischen Horst Köhler und Guildo Horn?
Es gibt schon genügend Überschneidungen. Ich mag Menschen, als Horst wie als Guildo, und bin überhaupt nicht menschenscheu. Ich benutze Musik vor allem als Kommunikationsmittel, um dem Publikum und mir eine unvergessliche Zeit zu verschaffen. Man muss sich dafür in sich selbst versenken können und genau das habe ich bei der Lebenshilfe gelernt. Ich kann das - selbst, wenn draußen ganze Kontinente zusammenbrechen.
Guildo Horn, Musiker und Entertainetr
Was waren Sie für ein Kind? Laut? Leise?
Akustisch war ich laut bis unerträglich. Ich bin im sozialen Wohnungsbau in Trier aufgewachsen, und unsere Nachbarn waren zeitweise extrem gestresst von mir. Ich habe ständig gebrüllt und war immer heiser. Der Kinderarzt sagte zu meiner Mutter: „Der ist halt ein Brüller.“ Trotzdem habe ich mich nicht andauernd in den Vordergrund gedrängt. Ich konnte mich tagelang nur mit mir selbst beschäftigen. Es war definitiv nie ein Motor von mir, Aufmerksamkeit zu bekommen. Den Applaus, den ich heute bekomme, nehme ich eher mit Demut an. Der ist ja auch nicht für mich persönlich gedacht, sondern für meine Kunstfigur, die ich mir geschaffen habe, um so extrovertiert sein zu können. Es ist nur ein Teil meiner Persönlichkeit, den ich als „Guildo“ ausspiele.

"Ich habe mich als Schlagzeuger schon durch alle Genres geknüppelt": Guildo Horn bei einem Bühnenauftritt 2022 in Siegen.
Quelle: Regine Wenzel
Woher kam die Liebe zur Musik?
Mit neun Jahren habe ich eine Gitarre geschenkt bekommen, die war von Quelle oder Neckermann und wurde mein ständiger Begleiter. Ein totales Billigding mit Stahlsaiten wie ein Eierschneider. Wir hatten ja nicht viel Geld. Meine Finger haben geblutet, aber ich habe nicht aufgegeben.
Ihre Diplomarbeit im Pädagogikstudium trug den sehr schönen Titel „Die Befreiung von der Vernunft“. Was war die Kernthese?
Ursprünglich wollte ich über die schamanistische Wirkung von Musik schreiben und das Thema mit meiner Behindertenarbeit verwirbeln. Weil mein Professor mich da ausgebremst hat, habe ich dann versucht, die klassische Musiktherapie wissenschaftlich mit einem Guildo-Horn-Konzert zu vergleichen.
Guildo Horn, Musiker und Entertainer
Um die „Befreiung von der Vernunft“ geht es am Ende auch in Ihrer Kunst. Wird das „Erwachsenwerden“ überschätzt? Geht dabei mehr verloren, als man dazugewinnt?
Ich bin kein Kind im Mann. Ich bin ein Mann, Ehemann und Vater, kein großer Junge. Ich handle verantwortungsbewusst und vernunftgesteuert. Aber wenn ich auf die Bühne gehe, kann und will ich diese Vernunft hinter mir lassen. Jeder sollte sein Ding finden, bei dem er mit sich verschmilzt. Denn das tut richtig gut.

"Endlich normale Menschen!": Guildo Horn (.) spricht 2003 mit Rudi Leist, Sänger der Gruppe "Die Combo".
Quelle: picture-alliance / dpa
Ihr neues Hörbuch „Die Guildomacher“ basiert auf Ihrem autobiografischen Roman „DoppelIch“, inspiriert von der Grimme-Preis-prämierten Talksendung „Guildo und seine Gäste“. Damals war es ein großer Schritt, auf Augenhöhe geistig behinderten Gästen zu begegnen. Im Vorwort heißt es, die „Zeit verlange nach einer neuen Veröffentlichung“. Warum?
Ich war entsetzt, als ich die Reaktion des neuen US-Präsidenten auf die Flugzeugkatastrophe in Washington kurz nach seiner Inthronisierung las. Er hat behinderte Menschen diffamiert und gegen Diversität gehetzt, bevor klar war, was überhaupt passiert ist. Mir hat es die Socken ausgezogen. Und auch hier in Deutschland sprechen sich interessierte Kreise gegen die Inklusion aus. Behindertenprogramme werden ohne Sinn und Verstand gestoppt, und ich möchte das nicht tatenlos geschehen lassen. Bei allem Humor, der meine Arbeit sonst kennzeichnet. Ich fühle mich verantwortlich gegenüber meinen behinderten Freunden, den Mund aufzumachen, vor allem in diesen Zeiten!
Sie werben für die „Kraft der Inklusion“.
Genau. Inklusion ist keine Einbahnstraße. Du bekommst auch etwas dafür! Aber die meisten Leute, die gegen Inklusion brüllen, haben noch nie mit behinderten Menschen Kontakt gehabt und können es eigentlich nicht beurteilen. Mein Hörbuch ist keine staubtrockene Fachliteratur. Ich habe das Ding frei von der Leber weggeschrieben, ohne Netz und doppelten Boden. Bildung und Aufklärung fruchten eh am allerbesten im Gewand der Unterhaltung. Für die Menschen, die wider besseres Wissen Behindertenarbeit bösartig mit Füßen treten, sind Hopfen und Malz verloren. Aber denen, die nur aus Unwissenheit da mitlaufen, möchte ich von mir und meinem Lebensweg im Kreise geistig Behinderter erzählen.
Guildo Horn, Musiker und Entertainer, über den Umgang der Gesellschaft mit Behinderten
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Toleranzschwellen wieder sinken, auch im Umgang mit Behinderten?
Wenn der Wind rau wird, knüppelt man auf die Schwächsten der Schwachen ein. Das ist die einfachste Methode, um über andere Defizite der Gesellschaft hinwegzugehen. Dabei kann das Schicksal, behindert zu werden, dich und mich jederzeit treffen. Ich möchte gern in einer Gesellschaft leben, in der Menschen nett zueinander sind und solidarisch. Dieser Mittelaltermentalität, bei der die Starken und Reichen die anderen schamlos dominieren, stehe ich fassungslos gegenüber.

Platz 7 für einen Schlagersympathen: Guildo Horn beim ESC 1998 in Birmingham.
Quelle: Katja Lenz/dpa/Archivbild
„Guildo hat euch lieb“ lautete die Botschaft ja schon 1998, als Sie beim Eurovision Song Contest antraten. Woher kam die Schlagerliebe?
Ich habe mich als Schlagzeuger schon durch alle Genres geknüppelt. Meine Großtante besaß so eine AEG-Musiktruhe, auf der liefen ständig deutsche Nachkriegsschlager, wie „Der lachende Vagabund“ von Fred Bertelmann. Da hat es mich erwischt! Und weil es mich schon immer gestört hat, dass Schlagermusik so verpönt war, habe ich mich auf den Kreuzzug der Zärtlichkeit begeben. Ich wollte diese Musik retten und sie so spielen, wie sie gespielt werden sollte, quasi als „deutschen Soul“ mit Rockband.
Deutschland war beim ESC 1995 Letzter geworden und durfte 1996 nicht mal mehr teilnehmen. Wie kamen Sie ins Spiel?
Ich hatte 1996 die erste Bewerbung mit: „Lass das Wunder Liebe sein“ abgegeben und bin krachend an der Jury gescheitert. Dann habe ich beschlossen: Ich trete jetzt in einen Hungerstreik, um auf die Missstände im Reglement hinzuweisen. Wir haben ein „Bed-In“ veranstaltet und Journalisten eingeladen. Ich glaube, ich habe tatsächlich morgens zwei Stunden nichts gegessen. Zwischenzeitlich waren wir aber beim Chinesen. Der NDR mit Jürgen Meier Beer hat dann ein Jahr später die Verantwortung für den ESC übernommen, das Reglement wurde geändert und meine Plattenfirma hat uns ausgewählt.

Erfolg vor 27 Jahren: Nach seinem Sieg in der deutschen Vorentscheidung zum ESC 1998 schließt Schlagersänger Guildo Horn (r) den Komponisten und Textautor seines Liedes "Guildo hat euch lieb", Alf Igel alias Stefan Raab, in die Arme.
Quelle: Ingo Wagner/dpa
Wie kam es dazu, dass Stefan Raab Ihren ESC-Song schrieb?
Wir haben einen passenden Titel gesucht. Und Raab war einfach einer der Komponisten, die uns Titel geschickt haben. Es war keine konzertierte Aktion.
Wie sehen Sie den ESC heute?
Es ist großartig, dass Zuschauer europaweit voten, mitfiebern, zuhören. Ich habe den ESC 2023 mit meiner Tochter geguckt, die ist 13, und da waren ein paar tolle Nummern dabei wie „Boys Do Cry“ aus Belgien. Letztes Jahr habe ich aber zum ersten Mal gedacht: Das ist nicht mehr mein Wettbewerb. Ich werde wohl zu alt. Mir hat einfach nichts mehr richtig gefallen. Die Künstler werden erschlagen von diesen Video-Walls. Sie selbst sind nur noch ein winziger Teil der Inszenierung. Ich bin Purist. Ich mag handgemachte Vintage-Musik mit guten Melodiebögen. In diesem Jahr trete ich parallel zum ESC beim „1. Inklusiven Musikfestival“ in Trier mit einer Behindertenband auf, das ist mir wichtig.
Guildo Horn, Musiker und ESC-Teilnehmer 1998, über den Wettbewerb heute
Ist dem ESC bei aller Grandezza die Seele verloren gegangen?
Ich finde schon. Ich mag Musik am allerliebsten im „Black Box“-Stil. Du hast eine Bühne, da ist nichts drauf. Und du hast einen Künstler. Der muss dich mit seiner Musik, seinem Können und seiner Seele erreichen. Und für alles andere gucke ich mir einen Videoclip an.
Was halten Sie vom deutschen Beitrag „Baller“ von Abor & Tynna?
Die beiden Interpreten finde ich toll, die haben eine super Ausstrahlung und kommen großartig rüber. Musikalisch ist es überhaupt nicht meine Baustelle. Aber ich drücke ihnen die Daumen.

"Jeder Mensch ist einzigartig und schräg": Guildo Horn (63).
Quelle: Handout
Sie haben mal den Satz geschrieben: „Mittelmäßigkeit ist vollkommen unnatürlich“. Was meinen Sie damit?
Jeder Mensch verfügt über so viele Facetten und ist so individuell, einzigartig und schräg – da ist es einfach schade, dass sich das Gros der Bevölkerung in eine Mittelmäßigkeit zu retten versucht und sich nicht traut, sich als der Mensch zu zeigen, der man in Wirklichkeit ist. Das ist unnatürlich. Und genau deshalb dachte ich damals in Trier: „Endlich normale Menschen!“
Herr Horn, vielen Dank für dieses Gespräch.
ZUR PERSON: GUILDO HORN
Guildo Horn, geboren am 15. Februar 1963 in Trier als Horst Heinz Köhler, ist Schlagersänger, Moderator und Schauspieler. Nach dem Abitur absolvierte er ein soziales Jahr in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen und studierte anschließend Pädagogik an der Universität Trier. Nach seinem Abschluss arbeitete er als Musiktherapeut, bevor er ab 1991 als Schlagersänger in Erscheinung trat. Bekannt wurde er durch seine ironisch gefärbten Schlagertexte und extravaganten Bühnenoutfits. 1998 vertrat er Deutschland beim Eurovision Song Contest mit dem von Stefan Raab geschriebenen Titel „Guildo hat euch lieb!“ und erreichte den siebten Platz. Neben der Musik ist Horn als Schauspieler aktiv und moderierte verschiedene TV- und Radiosendungen. Privat engagiert er sich für Menschen mit Behinderungen und die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften. In seinem neuen Hörbuch „Die Guildomacher“ (Fine Voices, 9,99 Euro) wirbt er für die Inklusion und erzählt von seinen Erfahrungen bei der Arbeit mit Behinderten. Guildo Horn lebt mit seiner Familie im Bergischen Land.
rnd